Imperialismus und Weltmarkt

Es gibt zwar wichtige Parallelen zwischen dem nationalen Markt und dem Weltmarkt, aber jener ist nicht einfach eine Subkategorie des letzteren. Eine genauere Analyse des Weltmarkts, der stets in Verbindung mit den nationalen Ökonomien zu sehen ist, macht evident, dass der Weltmarkt mehr ist als nur die Aggregation der Staaten und Unternehmen, nämlich eine komplexe Struktur, eine Kette von internationalen Beziehungen, Waren- und Geldkapitalströmen und monetären kausalen Verbindungen, die zwar auf den verschiedenen nationalen Staaten sowie den verschiedenen Systemen der Kapitalmacht aufbauen, wobei aber die komplexe Struktur des Weltmarkts eine gewisse Eigenständigkeit entwickelt und es dennoch zu keiner einheitlichen ökonomischen Verfasstheit desselben kommt. Die Weltökonomie ist nicht einfach die Summe von nationalen Teilen, sondern sie ist selbst ein hierarchisch differenziertes System, innerhalb dessen heute das Wachstum der Kapitalexporte der Unternehmen der führenden imperialistischen Staaten befördert, der Raum für die Kapitalzirkulation und die Finanzindustrie erweitert und ein komplexes Verhältnis zwischen führenden und subalternen Nationen im Rahmen komplizierter Netzwerke der Informationsübertragung hergestellt wird.

Die Expansion der Finanzmärkte und der massive Kapitalexport aus den USA, Westeuropa und Japan seit den 1970er Jahren in die peripheren Staaten trug einerseits zur partiellen Deindustrialisierung dieser kapitalistischen Länder bei, führte dort zum Import billiger Konsumwaren und ermöglichte andererseits die exportorientierte Industrialisierung peripherer Staaten. Die Devisenreserven, die insbesondere China durch sein am Export orientiertes Wachstumsmodell erwirtschaftete, flossen wiederum in US-Staatsanleihen und andere Finanzanlagen und verstärkten damit die Expansion der Finanzmärkte. Dabei bleiben die Länder des globalen Südens und deren Wachsumsstrategien auf einen kontinuierlichen Zufluss ausländischen Kapitals und auf ausländische Absatzmärkte angewiesen. China und andere aufstrebende Ökonomien können gegenwärtig nicht an einem Niedergang der neoliberalen Regime des Westens interessiert sein, da sie in die neoliberal ausgerichtete Weltordnung ökonomisch vollständig integriert sind.

Die Vertiefung der internationalen Arbeitsteilung und die Integration der Länder und Unternehmen auf ökonomischer Ebene erfordern immer auch entsprechende politische Regulationen. Dabei bleibt der Nationalstaat eine wichtige Instanz, wobei aber mit der zunehmenden Transnationalisierung des Kapitals auch supra-transnationale Institutionen für die internationale Regulation geschaffen werden und es zudem zu informellen Absprachen zwischen Regierungen kommt. Es gilt festzuhalten, dass hier eine Transformation von politischen Prozessen, die noch auf die parlamentarische Demokratie bezogen waren, in supra-nationale und von Experten dominierte Institutionen stattfindet, die sich selbst einer formellen demokratischen Kontrolle weitgehend entziehen (die Welthandelsorganisation (WTO), der Internationale Währungsfonds (IMF), die Weltbank, die EU und die Europäische Zentralbank sind hier zu nennen). Damit können auch die konjunkturellen Bewegungsformen der Profitzyklen, insbesondere die Herstellung der Durchschnittsprofitraten, der tendenzielle Fall der Profitrate und dessen gegenteilige Tendenzen, allein auf der Ebene der nationalen Ökonomien nicht mehr diskutiert werden. Dennoch führen die internationalen Kapital- und Preisbewegungen nicht zu durchschnittlichen Profitraten auf dem Weltmarkt, sondern die nationalen Differenzen der Produktivität und der Entwicklung der Profitraten werden auf dem Weltmarkt in spezifischer Weise modifiziert.

Unter all diesen Gesichtspunkten leistet das Finanzsystem auf internationaler Ebene heute Folgendes: 1) Die Überwindung der Grenzen und Friktionen, die auf die nationale Territorialisierung und auf nationalstaatliche Restriktionen zurückzuführen sind. 2) Die Öffnung der nationalen Ökonomien für ausländische Unternehmen. 3) Die Überwindung der Schwerfälligkeit der klassischen Industrieproduktion, die nun sogar über die Integration in die globalen Wertschöpfungsketten »leichter« wird. 4) Die Förderung des internationalen Wettbewerbs. Das internationale Finanzsystem besitzt die Funktion, die Dominanz der großen Unternehmen und imperialistischen Staaten im Weltsystem zu stabilisieren und zu stärken, während umgekehrt die Position eines Landes am Weltmarkt, der Gebrauch der eigenen Währung im internationalen Handel und seine militärische Macht die Möglichkeit für inländische Unternehmen, ihre Macht und Kontrolle über ökonomische Ressourcen auf internationaler Ebene weiter auszubauen, verstärkt. Und nur wenige Länder besitzen ein international funktionierendes Banken- und Finanzsystem, das zumindest einen entwickelten Außenhandel und ein ausgedehntes internationales Investmentbusiness voraussetzt, das heißt, intensive finanzielle ökonomische Beziehungen zu anderen Ländern.

In den letzten Jahren wurde auch die Debatte um den Begriff des Imperialismus wieder aufgenommen, allerdings in einem anderen Sinn, als Lenin oder Hilferding ihn im zwanzigsten Jahrhunderts noch diskutiert hatten. Tony Norfield fasst seine eigene, an der Aktualität der Mechanismen des heutigen Weltmarktes orientierte Definition des Imperialismus in seinem Buch The City folgendermaßen zusammen: Eine kleine Anzahl von imperialistischen Staaten bildet heute eine hierarchische Allianz auf dem Weltmarkt, der zugleich mittels großer multinationaler Unternehmen, die enorme Mengen an Waren und Dienstleistungen in globalen Wertschöpfungsketten produzieren, integrieren und dort handeln und Kapital jedweder Art sowie finanzielle Serviceleistungen kapitalisieren, konstituiert wird. Die großen internationalen Unternehmen investieren heute sehr wohl noch, aber weniger in ihren eigenen Ökonomien. Die Liberalisierung des Welthandels, der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Entwicklung der Logistik ermöglichen den großen Konzernen in den kapitalistischen Kernländern neue Profitquellen und Investmentmöglichkeiten im globalen Süden, während die Preise für ihre Inputs aufgrund billiger Importe von dort fallen. Die ökonomischen Machtzentren beruhen also auf einem komplexen Zusammenspiel zwischen imperialistischen Staaten, die aufgrund der Bereitstellung materieller und sozialer Infrastrukturen die Ausgangsplattformen für das entwickelte Kapital darstellen, und großen transnationalen Unternehmen, deren Geldkapital ständig rund um den Globus fließt. Dabei sind die ökonomischen Machtverhältnisse zwischen den führenden kapitalistischen Ökonomien streng hierarchisiert, wobei sich aber die relative Macht der einzelnen Länder und ihrer Ökonomien immer verschieben kann. Daraus folgt eine Aufteilung der Welt, die auf der expansiven Ausübung der ökonomischen, politischen und militärischen Macht der Staaten und ihrer großen Unternehmen beruht. (Norfield 2016: Kindle-Edition: 189f.) Die führenden imperialistischen Staaten müssen eine gewisse ökonomische Größenordnung erreicht haben, damit eine hohe Konzentration des Kapitals, ein entwickelter und differenzierter Arbeitsmarkt im eigenen Land sowie ein vorteilhafter Zugang zu den ökonomischen Ressourcen an den Weltmärkten und, bis zu einem gewissen Maß, auch die Kontrolle über die internationalen Kapitalströme möglich werden.

Die dominante Macht im internationalen geo-ökonomischen und geo-politischen Vergleich stellen, vor allem aufgrund ihrer militärischen Stärke und der Leitwährung Dollar, immer noch die USA dar. Norfield nennt fünf konkrete Kriterien, die für die ökonomische und politische Machtposition eines Landes auf dem Weltmarkt ausschlaggebend sind: 1) Die Größe der Ökonomie eines Landes (eine annähernde Kennzahl ist das BIP). 2) Die Menge an fremden Vermögenswerten, über die eine Ökonomie verfügt. 3) Die internationale Macht des eigenen Bankensektors. 4) Der Status der eigenen Währung als international gültiges Zahlungsmittel. 5) Die Höhe der Militärausgaben. (Ebd.: 1960ff.)

Die polit-ökonomische Machtposition eines Landes auf dem Weltmarkt kann schließlich nur dann festgestellt werden, wenn man dessen ökonomische und politische Beziehungen zu anderen Ländern berücksichtigt. Norfield kommt zu dem Schluss, dass heute zwanzig Länder insbesondere aufgrund der Stärke und Potenz ihrer Ökonomien wichtige und führende Stellungen auf dem Weltmarkt einnehmen, wobei die USA bei vier der fünf oben angegebenen Kriterien die führende Position innehaben und lediglich bezüglich der Größe des eigenen Bankenwesens und dessen Dienstleistungen im internationalen Kontext (Interbankenhandel) von Großbritannien mit seinem Finanzplatz London übertroffen werden. Großbritannien liegt aufgrund der hohen Anzahl von Banken und Direktinvestitionen, die sich auf ausländisches Vermögen beziehen, noch vor Deutschland (Platz 4) auf Platz 2, das als die führende politische Macht in Europa gilt. China nimmt als der führende »emerging market« den dritten Rang ein. (Ebd.: 2060) Unterhalb der Skala befinden sich die sogenannten Rohstoffländer, die vor allem als Lieferanten von billigen Rohstoffen, Energien, Lebensmitteln und Arbeit (Jason W. Moores Cheap Four; Moore 2016) sowohl für die westlichen Industrieländer als auch für die aufstrebenden Staaten interessant sind und deshalb beispielsweise permanent an den Rohstoffbörsen beobachtet und bewertet werden. Eine besondere Rolle spielen die Ölstaaten, die aufgrund ihres einzigartigen Naturprodukts Öl hohe Anteile am abstrakten Reichtum an den Weltmärkten erlangt haben und heute selbst versuchen, auf internationaler Ebene neue Standorte für die Kreditschöpfung und für den Handel von fiktivem und spekulativem Kapitals zu gründen.

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