Thomas Nails “Marx in Motion” (1)

Das Marx Buch von Thomas Nail bezieht sich stark auf den kinetischen Materialismus, den Nail an anderer Stelle entwickelt hat. So ist es kein Zufall, dass Nail nach einer Reihe von Anmerkungen zum westlichen Marxismus mit einer breiten Diskussion der Dissertation des frühen Marx beginnt.

Die Rückkehr zu einem Marx des 21. Jahrhunderts ist für Nail eine zu seinen Schriften selbst, und zwar so, als ob sie zeitgenössisch wären. Das steht im Gegensatz etwa zur Marx Rezeption von Laruelle, der gegenüber einem transzendentalen Marx auf einer Rezeption des Marxismus und seinen Fehlern besteht. Wir haben dies an anderer Stelle diskutiert.

Den Niedergang des Marxismus sieht Nail zunächst in einer deterministischen Theorie der Geschichte begründet, die allerdings auch im Marxismus inzwischen sehr breit aufgearbeitet und kritisiert wurde. Des Weiteren spricht Nail von einem Reduktionismus-Modell, das auf kausalen ökonomischen Gesetzen basiere und die nicht-ökonomischen Bedingungen für die Emergenz der kapitalistischen Ökonomie vernachlässige. Ohne gerade dies zu tun, haben wir an anderer Stelle ein komplexes Modell der Determination-in-der-letzten Instanz entwickelt, das dann seine Aussagekraft gewinnt, wenn das Kapital sich selbst setzt, ohne eben zu vernachlässigen, dass es immer wieder neue Schübe der primitiven Akkumulation gibt, die aber jetzt ökonomische Schübe sind.

Auf allgemeiner Ebene hat der marxistische Reduktionismus die Materie auf die Existenz diskreter Partikel reduziert, die Materie selbst auf ewige Gesetze der Bewegung, wie sie durch die Wissenschaft bekannt sind, reduziert. Für die Quantentheorie besteht die Materie jedoch nicht aus konkreten Partikeln, sondern aus vibrierenden Feldern, wobei die Materie weder auf Empirie noch auf universelle mechanische Gesetze ihrer Bewegung zu reduzieren ist. (Zudem ist die Materie nicht unabhängig von ihrer Beobachtung.) Allerdings ist beispielsweise eine Ontologisierung der Wellen-Funktion, wie man sie bei Nail ansatzweise findet, ein Problem. Wenn man die Welle als real betrachtet, wie ist es dann möglich, wenn sie über einen onto-vektorialen Raum expandiert, dass sie sich plötzlich an einem bestimmten Punkt als Partikel manifestiert?

Weiterhin wirft Nail dem Marxismus einen Anthropozentrismus vor, sei es in der produktivistischen (technologische Version) oder in der humanistischen Variante.

Für Nail ist der Marxismus aber keine starre Doktrin von Thesen, sondern fließt kontinuierlich durch die diversen theoretischen Praxen. Und dann kommt Nail schnell auf eine seiner Hauptthesen zu sprechen: Bevor es etwa einen hegelianischen Marx gab, gab es einen Marx des Epikur, wobei das Werk von Lukrez „De Rerum Natura“ hier eine tragende Rolle spielt, in dem zum ersten Mal ein kinetischer oder Prozess-Materialismus vorgestellt wird. Marx selbst besitzt für Nail eine durchaus zeitgemäße Theorie der Bewegung, die den neuen Materialismen standhalten kann.

In der Geschichte des westlichen Marxismus sieht Nail drei „Revolutionen“ im Gange. Die des sowjetischen Marxismus, der ausgehend von Engels „Dialektik der Natur“ eine universalisierte Version der Dialektik geschaffen hat (Diamat), den humanistischen Marxismus und den poststrukturalistischen Marxismus, wobei die beiden letzteren Strömungen an Marx als einem anthropozentrischen sozialen Konstruktivisten weitgehend festalten. Dem will Nail den Versuch entgegensetzen, den Marxismus mit neuen Strömungen des Materialismus zu verbinden, um den Marxismus für das 21. Jahrhundert zu revitalisieren, indem er einen nicht-deterministischen, nicht-anthropozentrischen und nicht-reduktionistischen Marx ins Feld führt.

Marx wisse genau, so Nail, dass die Materie keinen mechanistischen, vitalistischen oder deterministischen Gesetzen der Bewegung folge, vielmehr habe er eine stochastische Theorie der Materie begründet, die man „kinetische Dialektik“ nennen könne, eine Pedesis der kinetischen Bewegung, die weder von ihrer Entwicklung absolut notwendig sei noch auf statistischen Gesetzen der Randomness beruhe. Pedesis besitze kein teleologisches Endziel, vielmehr sei die Materie immer aktiv und kreativ. Marx` Theorie der Materie stehe im Widerspruch sowohl zu empirischen und mechanistischen Theorien der Materie als auch zu spekulativen metaphysischen Theorien, vielmehr beschreibe sie nach Lukrez das erste Mal in der Philosophiegeschichte wieder die Materie als einen kinetischen Prozess (Materie ist immer in Bewegung und fließt, es gibt nur die Transformation der Transformation etc.), eine Theorie, die den gegenwärtigen Quantentheorien viel näher stünde als viele Marxisten dies annähmen. Auch Laruelle spricht im übrigen von einem Quanten-Marxismus. Laruelle erkennt aber das Diskrete zuallererst an, aber sieht auch, dass beispielsweise in einem algebraischen System von generischen Matrizen nur diskrete Variablen vorzufinden sind, die zwei Werte annehmen, aber sobald eine bivalente Variable Y hinzugefügt wird, man kontinuierliche Funktionen in einem verbundenen Raum bekommt. Es handelt sich hier um den algebraischen Logos einer komplexen Zahl.

Für Nail handelt es sich bei Marx` Theorie der Bewegung um eine historische Ontologie, ohne dass es eine ontologische Trennung zwischen Natur und Gesellschaft gibt, vielmehr gründet die Theorie selbst auf Praxis, und zwar eben nicht nur die der Menschen. Marx als ein nicht-anthropologischer Realist weiß, dass die Natur sich selbst konstruiert, dass es keinen einfachen Dualismus zwischen Natur und Mensch gibt, aber auch keinen einfachen Monismus, vielmehr gibt es eine Multiplizität, von Falten und Verkettungen. An anderer Stelle hat Jason Moore einen ähnlichen Versuch unternommen, den Dualismus von Natur und Mensch zu widerlegen.

Marx schreibt für Nail eine historische Ontologie der kinetischen Bedingungen des Kapitals, aber Marx weiß auch, dass alles in Bewegung ist, nicht nur das Kapital. Wir haben an anderer Stelle nachgewiesen, dass das Kapital auch ein mächtiges System der De-Ontologisierung ist, was Nail nicht berücksichtigt, da er alles auf einer regionalen historischen Ontologie der Materie-in-Bewegung aufbaut. So produziert das Kapital wie eben andere Produktionsweisen insbesondere ein spezifisches Regime der Patterns-in-Bewegung. Ähnliche Gesichtspunkte findet man an dieser Stelle bei Anwar Shaikh. Für Shaikh lässt sich eine große Bandbreite von ökonomischen Phänomenen durch ein kleines Set von operativen Prinzipien erklären, wobei aktuelle Ereignisse um die je sich schon bewegenden Zentren der Gravitation kreisen. Diese nennt Shaikh den systemischen Modus der turbulenten Regulation, dessen charakteristischer Ausdruck die Form der Wiederholung von Patterns annimmt.

Nail fügt hinzu, dass der Kapitalismus historisch unter spezifischen Bedingungen der Gewalt, Enteignung und des Ausschlusses entstanden ist, was ihn zu der Aussage verleitet, dass das Kapital seine Macht von der historischen Mobilität der Materie erhält und nicht umgekehrt. Nail zitiert an dieser Stelle Marx, der schreibt, dass das Kapital Bewegung sei und nicht ein Ding, das feststehe. Dabei gilt es zu sagen, dass Nail über den ganzen Text versucht, seine Thesen mit Zitaten aus dem gesamten Werk von Marx zu unterlegen und gerade Wert darauf legt, bestimmte Begriffe wie etwa „Zusammenhang“ genau zu erläutern, um sie gegen seiner Meinung falsche Übersetzungen ins Englische wieder ins Spiel zu bringen.

Für Nail steht fest, dass Marx schon in seiner Dissertation eine materialistische und kinetische Theorie der Dialektik entwickelt hat, eine Theorie, die auf den Studien von Epikur und Lukrez beruht und entgegen der Theorie von Demokrit einen mechanischen und deterministischen Materialismus ablehnt. Die Atome von Epikur sind keine diskreten Partikel, vielmehr kontinuierliche flows der Materie. Marx konstatiert dies selbst, in dem er eine strikte externe Kausalität ablehnt, stattdessen eine simultane, eine selbst verursachte, eine drei gefaltete Bewegung der Atome in der Leere ins Feld führt, den Fall in einer Linie, die Abweichung von der Linie und die Repulsion der vielen Atome. Es gibt also nicht zuerst den Fall, dann die Abweichung und dann die Kollision, vielmehr geschieht alles simultan, weil ansonsten nichts entsteht. Marx verwendet für diese Bewegung den Begriff „aufheben“ als einen Prozess des Entfaltens. Dabei sind die Atome der Leere selbst immanent, da diese durch Bewegung bzw. den Prozess der Materialisierung entsteht, sie ist je schon gefaltete Materie. Für Lukrez gibt es keine Leere, sie ist je schon Materie-in-Bewegung und bringt die Raumzeit hervor, und nicht umgekehrt. Am Anfang “ist” indeterministische Bewegung (flow), weshalb es keinen Anfang geben kann. Und im kontinuierlichen Prozess des Entfaltens der Materie erscheint das Atom nur relativ diskret (gefaltet), es produziert eine Kurve bzw. Abweichung von der Linie, wobei die vorherige Bewegung nicht vollkommen alle zukünftigen Bewegungen determiniert, sondern einen nicht-determinierten relationalen Prozess produziert, einen Prozess der kontinuierlichen Differenzierung, insofern des ständige Entfalten der Materie von sich selbst ein Zurückfalten in einer neuen Falte ermöglicht. Die Krümmung des flows der Materie bedingt die Repulsion der Materie gegen sich selbst, und Marx spricht hier von der Repulsion als der ersten Form des Selbstbewusstseins. Qualitäten treten dann auf, wenn die Materie sich immer wieder zurückfaltet und sich selbst sensibilisiert.

Marx verwendet das Verb „zusammenhängen“, um zu zeigen, dass Atome nicht als getrennte Teile verbunden sind, sondern dass ein Atom seine Bedingungen im anderen hat und umgekehrt, und sie sich damit gegenseitig unterstützen (und dies gilt für das Natürliche und das Artifizielle). Um es zusammenzufassen, die Leere ist nicht leer, Atome sind nicht diskret, die Abweichung ist nicht kausal und die Repulsion ist nicht sekundär, vielmehr sind die drei oben genannten Bewegungen regionale und zusammenhängende Momente einer kontinuierlichen und nicht-determinierten Bewegung der Materie.

In den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten entwickelt Marx laut Nail in der Fortführung seiner Thesen der Dissertation eine kinetische Theorie des Objekts, eines sensuellen Objekts als Falte zwischen einem aktiven flow der Materie und einer metastabilen Falte, die durch die Bewegung der Materie reproduziert wird. Der Mensch ist qua Natur sensibel und wird sensibilisiert. Und dieses Objekt-Sein gilt nicht nur für Menschen. So ist die Pflanze ein Objekt für die Sonne und die Sonne ein Objekt für die Pflanzen, i.e. die Pflanze als aufgefaltetes Sonnenlicht und das Sonnenlicht entfaltet in der Pflanze. Die Natur hängt mit sich selbst in kontinuierlich bewegenden Patterns der Ko-Produktion und des gegenseitigen Supports von metastabilen Objekten zusammen.

Das Kapital beginnt Marx für Nail mit einer sinnlichen Erscheinung, die aktiv erscheint und von etwas empfangen wird, das auch erscheint, einer zusammenhängenden Ansammlung von individuellen Waren, die ausgetauscht werden können. Das Problem des Anfangs sei im Kapital dasselbe wie in der Dissertation, nämlich die Erscheinung diskreter Materie oder der Atome, wobei es einen tieferliegenden kinetischen und materiellen Prozess gibt, in dem es um das Nicht-Ökonomische des Ökonomischen geht. Nail behauptet dann nicht überraschend, dass auch die Ware, um zu erscheinen, fließen, sich falten und in einem Feld der Relationen zirkulieren muss. Marx` kritische Methode sei regional, immanent und transformativ.

Für Nail beginnt die Existenz der Kritik der Politischen Ökonomie im Kapital genau dort, wo das Buch (erster Band) endet, nämlich mit der primitiven Akkumulation und dem Kolonialismus. Vor dem Kapital gibt es einen nicht-ökonomischen Prozess der Aneignung, dem einfachen Stehlen von Dingen, die nicht als ökonomische Werte gelten, wie die Aneignung der Arbeit von Frauen, kolonialen Leuten, von ökologischen Systemen etc. Nail zieht daraus den Schluss, dass das Kapital hinsichtlich des Modus der Untersuchung rückwärts und hinsichtlich des Modus der Präsentation vorwärts gelesen werden müsse.

Wir haben ein Rückwärts-Lesen der drei Bände des Kapitals aus anderen Erwägungen vorgeschlagen, nämlich dann, wenn das Kapital logisch und historisch sich voll durchgesetzt hat. Es gilt beim linearen Prozess der Darstellung/Präsentation des Kapitalbegriffs Gleichzeitigkeit und Überlagerung der Kreisläufe und der Bewegungen immer mit zu denken, oder, um es noch weiter zuzuspitzen, die drei Bände des Kapital quasi von hinten her zu lesen und damit gerade nicht ausgehend von der Waren- oder der Geldform, die beide oft (wie auch bei Nail) als Keimformen verstanden werden (der Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten), sondern ausgehend vom Gesamtkapital, dem quasi-transzendentalen Gesamtprozess der Reproduktion des Kapitals. In diesem Prozess müssen die Einzelkapitale unbedingt nachvollziehen, was objektiv von vornherein gegeben ist – sie müssen nämlich das Apriori der Mehrwertproduktion, das durch das Gesamtkapital gegeben ist, replizieren und gleichzeitig ihre gegenseitige Abhängigkeit und umfassende Vernetzung in der und durch die Konkurrenz affirmieren, und dies unter der exklusiven Bedingung, zumindest eine durchschnittliche Profitraten erzielen zu müssen.

Für Nail ist das, was als apriori Konzepte in den ersten Kapiteln des ersten Bandes des Kapital erscheint, von den historischen Bedingungen, welche die Untersuchung anleiten, nicht zu trennen. Nail will mit dem Ende des Kapitals Band1 aus zwei Gründen beginnen, nämlich der historischen Vorherrschaft der primitiven Akkumulation, die in die Theorie des Werts übersetzt wird. Am Ende der Ableitung der Logik des Werts realisiert man, dass das Ende logisch schon am Anfang des dialektischen Prozesses des Werdens selbst enthalten war. Im Gegensatz zu Hegels Logik ist die Marx`sche Dialektik strikt materialistisch, wobei die Materie durch das Menschliche mit sich selbst intra-agiert. Dabei ist die Natur kein Produkt der dialektischen Logik, vielmehr emergiert die dialektische Logik immanent mit der Natur. Und die Marx`sche Inversion von Hegel verändert die Dialektik selbst: Anstatt von deterministischen Gesetzen der Bewegung auszugehen, eröffnet Marx eine Pedesis der flows, anstatt logisch gegensätzlicher Momente gibt es kinetische Falten und anstatt einer logischen Synthesis bietet Marx einen offenen Prozess der Zirkulation an. Und wenn jede historische Formation sich in einem Stadium der fluiden Bewegung befindet, dann ist der Kapitalismus auch nicht das Ende der Geschichte.

Die Methode von Marx ist transzendental materialistisch, und das Transzendentale ist damit nicht ideell wie bei Kant oder universalistisch wie bei Hegel, vielmehr beginnt Marx mit der Realität der Praxis und untersucht dann die realen materiellen Bedingungen für diese Praxis.

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